09.09.2014 Fred Kaplan

Die Ukraine-Krise und der US-Abschuss der iranischen Maschine 655


US-Verteidigungsminister Frank Carlucci Iran Air Flug 655 Pressekonferenz

US-Verteidigungsminister Frank Carlucci rechtfertigt den Abschuss der Iran Air Maschine 655 auf der Pressekonferenz am 19. August 1988.

Als die Vereinigten Staaten ein Passagierflugzeug in die Luft sprengten und es zu vertuschen versuchten.

Die Wut und die Frustration über den Abschuss des Malaysia Airline Fluges 17 steigt weiter - und das zu Recht. Aber bevor man den russischen Präsidenten Wladimir Putin eines Kriegsverbrechens bezichtigt oder den ganzen Vorfall als tragischen Zufall abtut, lohnt es sich einen Blick zurück, auf ein anderes, dem Tod geweihtes Passagierflugzeug - den Iran Air Flug 655 - zu werfen. Er wurde am 3. Juli 1988 abgeschossen - nicht von irgendwelchen schäbigen Rebellen auf umkämpften Boden, sondern von einem US-Navy-Kapitän, der das Kommando über einen Aegis-Klasse Kreuzer namens Vincennes innehatte.

Ein Vierteljahrhundert später ist die Vincennes fast völlig vergessen, aber es gilt noch heute als die nach der Zahl der Opfer siebtgrößte Flugzeugkatastrophe weltweit (Malaysia Airlines-Flug 17 hat hier Platz 6 inne) und als einer der unentschuldbarsten Schandtaten des Pentagons.

Auf verschiedenen Ebenen sind die beiden Katastrophen ähnlich. Die malaysische Boeing 777 durchstreifte einen chaotischen Bürgerkrieg im Osten der Ukraine, in der Nähe der russischen Grenze; der iranische Airbus A300 durchflog ein Marinegefecht - eine von vielen Auseinandersetzungen im damals anhaltenden "Tanker-Krieg" (ein weiterer vergessener Konflikt) - in der Straße von Hormuz. Der wahrscheinlich pro-russische Rebell dachte, ein ukrainisches Militärtransportflugzeug zu beschießen; der US-Navy-Kapitän, Will Rogers III., verwechselte den Airbus A300 mit einem F-14 Kampfjet. Die russische SA-11 Boden-Luft-Rakete brachte das malaysische Flugzeug zum Absturz und tötete 298 Passagiere, darunter 80 Kinder; die amerikanische SM-2 Boden-Luft-Rakete brachte das iranische Flugzeug zum Absturz und tötete 290 Passagiere, darunter 66 Kinder. Nach dem Vorfall der letzten Woche tischten russische Offizielle verschiedene Lügen auf, um ihre Schuld zu vertuschen und beschuldigten die ukrainische Regierung; nach dem Vorfall 1988 erzählten US-Offizielle ebenso verschiedene Lügen und beschuldigten den iranischen Piloten. Erst acht Jahre später hat die US-Regierung die Familien der Opfer entschädigt, und dann auch nur ihr "tiefes Bedauern" ausgedrückt, sich jedoch nicht entschuldigt.

Als damaliger Kriegskorrespondent der „Boston Globe“ berichtete ich über den Abschuss der Vincenne, und ich bin mein Material durchgegangen und chronologisierte die aufgedeckten offiziellen Lügen und Falschaussagen. Hier ist der wirklich erschreckende Teil der Geschichte. Am 19. August 1988, fast sieben Wochen nach dem Vorfall, gab das Pentagon einen 53-seitigen Bericht darüber heraus. Obwohl der Text dies nicht so direkt sagte, so hat dieser doch nahezu alle anfänglichen Details über den Abschuss – die angeblichen Fakten, die hochrangige Offizielle anführten, um die Schuld auf den Iran-Air-Piloten zu lenken - als falsch befunden. Dennoch folgerte der August-Bericht, dass der Kapitän und alle anderen Vincennes-Offiziere korrekt gehandelt haben.

So sagte beispielsweise Admiral William Crowe, der Vorsitzende der Stabchefs der Streitkräfte, am 3. Juli bei der ersten Pressekonferenz des Pentagon über jenen Vorfall, dass die iranische Maschine auf einer Höhe von 9.000 Fuß geflogen sei und - sinkend mit einer „hohen Geschwindigkeit“ von 450 Knoten - auf die Vincennes „direkt zusteuerte“.

In Wahrheit jedoch, so folgerte der Bericht des 19. August, der von Konteradmiral William Fogarty vom Zentralkommando der Vereinigten Staaten (anhand der in der Operationszentrale des Schiffes gefundenen Computerbänder) geschrieben wurde, dass das Flugzeug „aufsteigend über 12.000 Fuß“ war, bei einer viel langsameren Geschwindigkeit von 380 Knoten. „Zu keinem Zeitpunkt“ sei der Airbus „tatsächlich an Höhe gesunken“, erklärt der Bericht.

Als ich auf der Pressekonferenz, bei der der Bericht verteilt wurde, auf diese Diskrepanzen hinwies, winkte Verteidigungsminister Frank Carlucci ab und sagte: „Es ist wirklich fraglich, ob eine andere Bewertung die Entscheidung beeinflusst hätte“, das Flugzeug abzuschießen. (Diese Argumentation finde ich immer noch erstaunlich.)

Es gab darüber hinaus noch andere ebenso beunruhigende Abweichungen zwischen Crowes Pressekonferenz am 3. Juli (die mich sogar zur damaligen Zeit misstrauisch gestimmt haben) und Fogartys Bericht vom 19. August. Crowe gab an, dass das Flugzeug „außerhalb der vorgeschriebenen handelsüblichen Flugroute“ geflogen sei; der Bericht sagte aber, dass das Flugzeug „innerhalb der gängigen Flugroute“ geflogen sei. Crowe sagte, der Transponder des Flugzeuges habe einen Code über den „Mode 2“-Militärkanal „ausgesendet“; der Bericht aber sagte aus, dass dieser über den „Mode 3“-Zivilkanal ausgesendet wurde. Crowe erklärte, dass die Vincennes mehrere Warnungen ausgesprochen habe; der Bericht bestätigte das, merkte jedoch an, dass „aufgrund der starken Arbeitsbelastung des Piloten beim Flugstart und Steigflug und den Anforderungen, mit" zwei Flugsicherungszentralen „zu kommunizieren“, der Pilot den internationalen Flug-Notruf-Kanal „wahrscheinlich nicht verfolgt“ habe.

Admiral George B. Christ, Leiter des US-Zentralkommandos, stellte einen „nicht mit Sanktionen verbundenen Verweis“ gegen den Flugabwehr-Offizier des Schiffes aus, aber Verteidigungsminister Carlucci widerrief selbst diesen Verweis. Nicht nur das - zwei Jahre später, wurde Kapitän Rogers mit dem Verdienstorden „für besonders verdienstvolles Verhalten in der Ausführung des hervorragenden Dienstes“ auf dem Posten des Befehlshabers der Vincennes „vom April 1987 bis Mai 1989“ ausgezeichnet.

Ein weiterer, schockierender Teil, von dem ich bis dato selbst nichts wusste: Im Jahre 1992, vier Jahre nach diesem Vorfall (und kurz nachdem ich zu einem anderen Ressort überging), gestand Admiral Crowe auf ABC’s Nightline, dass sich die Vincennes in iranischen Gewässern befunden hatte, als sie die Maschine abschoss. Damals im Jahre 1988 behaupteten er und noch andere, dass sich das Schiff in internationalen Gewässern bewegt hätte. Es stellte sich später ebenfalls heraus, dass einige andere Marine-Offiziere Rogers als "aggressiv" eingestuft hatten. Sie fanden es merkwürdig, wieso er seinen Aegis-Kreuzer in jene Gewässer bewegte, um iranische Patrouillenboote zu verfolgen – übertrieben im besten Fall und Ärger in jedem Fall. Die Ablenkung durch die Verfolgung, möglicherweise gepaart mit der Tatsache, dass das radargesteuerte Raketensystem der Aegis zu jener Zeit noch neu war, hat wohl zu seiner fatalen Fehleinschätzung geführt.

Kurz nach dem Abschuss bat Iran den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die Vereinigten Staaten für ihre „kriminelle Handlung“ gegen den Iran Air-Flug 655 zu tadeln. Vizepräsident George H. W. Bush, der dabei war, Ronald Reagan als Präsidenten abzulösen, sagte im Wahlkampf: „Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten entschuldigen - die Fakten sind mir egal.“

Schließlich, im Jahre 1996, drückte die Regierung unter Bill Clinton ihr „tiefes Bedauern“ aus und zahlte der iranischen Regierung 131,8 Millionen US-Dollar als Entschädigung, von denen 61,8 Millionen an die Verbliebenen der Opfer gehen sollten. Im Gegenzug stimmte Teheran zu, seine Klage gegen die Vereinigten Staaten vor dem Internationalen Gerichtshof fallen zu lassen.

Viele Iraner glaubten weiterhin, für viele Jahre, dass der Abschuss aus Absicht geschah. Sie fanden es schwer zu glauben, dass die US-Navy, mit ihrer Brillanz und ihrem Glanz, solch eine grausige Tat aus Versehen begangen haben könnte. Und sie waren bereit zu glauben, dass nach alledem Amerika - "der große Satan" - zu solch einer Bosheit in der Lage sei.

Nichts davon soll Putin für die Sammlung der Sezessionisten im Osten der Ukraine, für deren Ausrüstung mit fortschrittlichen Waffen und ihrer militärischen Ausbildung aus der Verantwortung entlassen. Ich beabsichtige auch nicht, falsche Parallelen zwischen Russland und der Ukraine heute und Amerika und dem Persischen Golf vor einem Vierteljahrhundert zu ziehen. Aber unabhängig davon ist die Vincennes-Saga mehr als nur ein kleiner, schockierender Teil der vergessenen Geschichte. Es gibt Parallelen zwischen damals und heute - und Lektionen zu lernen.

Erstens: Dinge wie diese passieren, wenn sich die Kriegsgebiete mit denen des zivilen Lebens überschneiden. Am besten ist es, das Vermischen dieser beiden zu vermeiden, oder, wenn das nicht hilft, die Zügel fester in der Hand zu halten, da sie zu leicht außer Kontrolle geraten.

Mehr als das: Es ist das Beste, schreckliche Fehler einzugestehen. Amerika wäre mit einem wesentlich besseren Image davonkommen - in einem entscheidenden Moment der Krise im Nahen Osten - wenn Präsident Reagan oder George H. W. Bush schnell bestätigt hätten, was mehreren hochrangigen Offizieren ohnehin klar war - und wenn sie die Schuld eingeräumt und die Opfer entschädigt hätten. Russland würde besser daran tun, wenn Putin nun so handeln würde. Das Image ist nicht alles; es gibt noch politische Streitigkeiten, womit man übers Ohr gehauen wird. Aber sich in einer solchen durchsichtigen Verschleierung zu engagieren, schafft oder bestätigt nur den Eindruck von Verlogenheit oder Boshaftigkeit.

Putin oder wer auch immer die Rakete abgefeuert hat, sollte zur Verantwortung gezogen werden, genauso wie Reagan und die Besatzungsmitglieder der Vincennes zur Verantwortung gezogen werden sollten, selbst wenn sie es nicht waren. Aber sie zur Verantwortung zu ziehen oder angemessene Strafen zu verhängen, bedeutet nicht, sie als Terroristen oder Kriegsverbrecher zu brandmarken. Immerhin gibt es einen Unterschied zwischen schrecklichen Fehlern und abscheulichen Terrorakten.

Zweitens: Das Hauptinteresse des Westens in der Ukraine ist - oder sollte es sein - zu helfen, eine friedliche, erfolgreiche Ukraine zu ermöglichen. Der Rausch der Sezessionisten, die Putin zusammengetrieben hat, säte ein solches Klima - bei dem die Zonen des Krieges und des zivilen Lebens überkreuzt wurden – und das Tragödien wie den Malaysia Airlines Flug 17 möglich machten. Es mag nun ein guter Zeitpunkt sein, das Klima zu ändern. Aber dies erfordert Realismus auf allen Seiten, keine maßlose Theatralik oder das Vergessen der Geschichte.


Erstmals veröffentlicht am 23. Juli 2014 bei Slate. Übersetzt von Bahram Sojudi.


Marcel09-09-14

Der Artikel ist zeitgeschichtlich interessant, aber ob es die Separatisten waren sei dahingestellt, sofern es noch keine Beweise gibt.

Lukas09-09-14

In der Malaisischen Presse ist es bereits die Luftwaffe der Ukraine, welche den MH17 abschoss.

Im Westen ist diese Tatsache noch unter Zensur gefangen.

Interessant, dass von den vielen Beweisen für eine Beteiligung der Rebellen nichts an die Öffentlichkeit gelangt ist. es ist auch verdächtig ruhig geworden um eine effektive, nachvollziehbare verivizierung der Urheber.

siglinde10-09-14

Zwei malaysische Maschinen in seltsame Begebenheiten verstrickt?!
Das eine verschwunden, dass andere ungeklärt abgeschossen. Verschwörungstheorien grassieren und auch mir drängt sich der Verdacht auf, dass da vielleicht eine nicht ganz gelungene False-Flag Aktion hinterstand. Übrigens waren auf der verschwundenen Flug zwei iranische Staatsbürger mit gefälschten Pässen an Bord, die dort unter normalen Umständen niemals hineingekommen wären, weil die gefälschten Pässe bekannt waren.
Eine Zeugin, die 20 min nach Absturz bei der MH 17 war, hatte Fotos geschossen und berichtet, dass die dort herumliegenden Leichenteile ohne Blut waren und es beißend nach einer Chemikalie wie Formalin roch.
Also noch so ein Ding über das man sich Gedanken machen muss in der Gewissheit dass nichts so ist, wie es scheint.
Aber trotzdem dreist, dass die Amis eine iranische Maschine abschossen und sich nicht einmal dafür entschuldigten und jetzt aus so einer Begebenheit so einen Hype machen.

Kosta10-09-14

Ich verstehe immer noch nicht für was sich die Russen entschuldigen sollen, es ist nichts bewiese. Und wenn jemand ein Grund hatte ein ziviles Flugzeug abzuschießen, dann sind es die Ukrainer, um die Aufmerksamkeit der NATO und der Rest der Welt auf die Lage in der Ukraine zu lenken. Und somit die Hilfe anzufordern, unter dem Vorwand, dass die bösen Russen in der Ukraine vor nichts halt machen.

Marie-Luise11-09-14

[...]*

*MODERATION: Bitte halten Sie sich an das Thema des Artikels. Bitte kein Off-Topic. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Simon13-09-14

"Er wurde am 3. Juli 1988 abgeschossen - nicht von irgendwelchen schäbigen Rebellen auf umkämpften Boden, sondern von einem US-Navy-Kapitän, der das Kommando über einen Aegis-Klasse Kreuzer namens Vincennes innehatte."

Hier wird etwas zu voreilig suggeriert, dass die Rebellen das Flugzeug abgeschossen haben. Meines Wissens hat die ukrainische Regierung diverse Fragen, die Russland im Hinblick auf diesen Vorfall gestellt hat, nicht beantwortet. Natürlich schließe ich nicht aus, dass Separatisten das Flugzeug abgeschossen haben, aber hier hätte man (wie bereits in anderen Kommentaren erwähnt) zumindest anmerken können, dass nichts bewiesen ist.

Alles in allem aber sehr lesenswert. Hier werden interessante Parallelen gezogen, die doch zum Nachdenken bringen. Das sollte man bei diesem Thema sicherlich im Hinterkopf behalten.





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