25.09.2014 Shireen T. Hunter

Staatszerfall und Terrorismus: Was braucht der Irak?


Irak Nachbarn Nachbarstaaten Kart Landkarte

Der Irak und seine Nachbarn.

Nuri al-Maliki ist nicht länger Iraks Premierminister, jedoch bedeutet sein Ausscheiden nicht, dass Iraks Probleme leicht oder bald gelöst werden. Zunächst müssen sich Iraks Innenpolitik, die Machtkämpfe zwischen und innerhalb der verschiedenen ethnischen und konfessionellen Gruppen sowie das Verhalten regionaler und internationaler Akteure gegenüber dem Irak substantiell verändern.

Zudem muss ein vernünftiger und allgemeiner Konsens bezüglich Iraks Zukunft erreicht werden. Es ist immer noch nicht klar, ob die Herausforderung für die irakischen Schiiten und Kurden durch den Islamischen Staat (vormals bekannt als ISIS) - zusammen mit der Beschämung, die durch das Verhalten  des Islamischen Staats bei den irakischen Sunniten ausgelöst wurde - ausreichen werden, um diese Gruppen dazu zu zwingen, sie zusammenzubringen, ihre Maximalforderungen zu begrenzen, sich auf sinnvolle Vereinbarungen über die Aufteilung der Macht zu einigen und mit der Arbeit zur Entwicklung eines irakischen Nationalbewusstseins zu beginnen. Gleichwohl lassen sowohl Malikis Ausscheiden als auch die ernüchternde Wirkung der Siege des Islamischen Staates etwas darauf hoffen, dass alle Beteiligten die Fehler ihres vergangenen Handelns erkennen werden.

Die Realität akzeptieren

Zuerst einmal sollte es Malikis Ausscheiden den sunnitischen Politikern, die ihn als inakzeptabel betrachtet haben, erleichtern, vernünftiger zu agieren und eine aktive und konstruktive Rolle bei der Formierung und dem Management der neuen Regierung einzunehmen. Aber während die Sunniten in der neuen Regierung zu ernstzunehmenden und nicht nur repräsentative Positionen berechtigt sind, ist es ebenso wichtig, dass sie realisieren, dass sie ihren alten dominanten Status nicht beanspruchen können und in dem sie jene Position nicht mehr erreichen, können sie auch nicht mehr ihre Marginalisierung und Verfolgung reklamieren. Wenn sie jedoch diesen Weg weiterhin verfolgen, könnte der neue Premierminister selbst mit dem besten Willen der Welt sie nicht zufriedenstellen.

Derweil müssen die Schiiten begreifen, dass sie nicht den ganzen Irak repräsentieren, selbst wenn sie die Mehrheit darstellen. Vielmehr benötigen sie die Erfahrung und Expertise anderer Iraker, um die Probleme des Landes zu lösen. Vor allem sollten sie zwischen den Hardcore-Baathisten und gewöhnlichen Sunniten unterscheiden und Letztere nicht für die Sünden der Ersteren bestrafen.

Die Schiiten sollten auch begreifen, dass sie innerhalb der arabischen Welt eine Minderheit darstellen. Um im Irak erfolgreich zu sein, müssen sie deshalb das Gerangel und die ausufernden Machtkämpfe in den eigenen Reihen beenden. Sonst riskieren sie es wieder einmal, an den Rand der irakischen Gesellschaft und Politik gedrängt zu werden. Eine vereinte schiitische Front mit vernünftigen politischen Positionen und einer klaren Agenda, die auch den Nicht-Schiiten Vorteile bringt, würde viel dazu beitragen können, andere dazu ermutigen, sich ihnen bei neuen politischen Arrangements anzuschließen.

Die Kurden und insbesondere Masud Barzani müssen begreifen, dass die kurdische Entität im Irak immer noch geteilt ist und die erforderlichen Voraussetzungen für einen unabhängigen Staat nicht erfüllt, wenn auch Erbil sich entwickelt hat und bis vor kurzem noch stabiler war als andere Teile des Iraks. Folglicherweise bedürfen die Kurden eine kooperative Haltung gegenüber anderen Gruppen im Irak. Sie sollten sich nicht vom Drängen anderer Länder beeinflussen lassen, die kein echtes Interesse am Wohlbefinden und an der Zukunft der Kurden haben und sie beim Streben nach Unabhängigkeit aufgrund der eigenen Ziele ermutigen. In diesem Zusammenhang sollte Malikis Ausscheiden helfen, da seine Beziehungen mit den Kurden sich fast so schlecht entwickelten wie sein Verhältnis mit den Sunniten.

Zweitens sollte es Malikis Ausscheiden einigen Nachbarn des Irak, insbesondere Saudi-Arabien, leichter machen, ihre Haltung gegenüber dem Irak zu verändern, und ihre Bemühungen, wieder eine sunnitische Dominanz herzustellen, zu beenden. Saudi-Arabien spielt praktisch seit dem Moment des Sturzes Saddam Husseins eine entscheidende Rolle bei der Bewaffnung und Finanzierung sunnitischer Militanter im Irak. Zudem entspringt die Ideologie von Gruppen wie dem Islamischen Staat, auch wenn sie jetzt als salafistisch oder dschihadistisch bezeichnet wird, dem saudischen Wahhabismus. Die Erlasse saudischer Kleriker verleiten Sunniten dazu, Schiiten zu töten, indem sie sie als Kafir (Ungläubige) bezeichnen. Wenn man die enge Beziehung zwischen dem saudischen Königshaus und den wahhabitischen Klerikern berücksichtigt, ist es schwer zu glauben, dass solche Erlasse ohne die Zustimmung der Regierung zustande gekommen sind.

Als Zeichen einer vernünftigeren Annäherung an den Irak, sollten die Saudis und andere arabische Staaten den Irak in ihre Reihen aufnehmen, anstatt ihn zu meiden. Das würde sie ihrem Ziel, den Einfluss Irans im Land einzugrenzen, näherbringen. Gleichzeitig müssen sie aber begreifen, dass Iran historische, ethnische, sprachliche und religiöse Verbindungen sowohl mit den Schiiten als auch mit den Kurden im Irak hat und dass Bemühungen, seinen Einfluss dort auszumerzen - oder noch schlimmer, im Namen der irakischen Regierung eine anti-iranische Politik zu fördern - kontraproduktiv sein würden.

Auch die Türkei muss begreifen, dass die Schwächung der irakischen Zentralregierung nicht das irakische Kurdistan und Kirkuk - und somit deren Energiereserven - unter türkische Kontrolle bringen würde. Generell sollte die Türkei ihren Traum von einem neuzeitlichen Osmanischen Reich aufgeben und sich ihre eigenen ethnischen und religiösen Schwachstellen bewusst machen.

Noch wichtiger als die Haltung und Politik regionaler Mächte ist jedoch die Politik internationaler Hauptakteure, insbesondere die der USA. Erst einmal müssen offizielle Spekulationen über den Zerfall des Irak aufhören - zusammen mit Maßnahmen wie der Bewaffnung regionaler Truppen, wie z. B. der Kurden, die dazu neigen, zentrifugale Kräfte zu unterstützen. Zweitens müssen Außenstehende die ethnischen und religiösen Realitäten im Irak anerkennen und - anders als in den ersten Tagen nach der Absetzung Saddams im Jahre 2003  - nicht mit den konfessionellen Unterschieden des Landes ihr Spiel treiben.

Iranisch-Arabische Waffenruhe

Außenstehende müssen auch Iraks Innenpolitik von ihren Strategien bezüglich Iran trennen. Gewiss sollte es keine erneuten Bemühungen geben, den Irak in eine Basis zur Eindämmung oder - noch schlimmer - zu einer Basis für einen Angriff auf Iran zu verwandeln. Natürlich sollte sich Iran nicht in die irakischen Angelegenheiten einmischen, seine legitimen Anliegen sollten jedoch auch nicht ignoriert werden. Wenn diese letzte Vorgehensweise angewandt wird, könnte Iran zusammen mit den arabischen Staaten und der Türkei Teil eines regionalen Abkommens werden, das zur zukünftigen Stabilität des Iraks beitragen könnte. Die saudische Haltung, die jegliches iranische Engagement irgendwo im Nahen Osten und in Südasien für inakzeptabel und illegitim hält, hat sich als schädlich herausgestellt - nicht nur im Irak, sondern auch anderswo, insbesondere in Afghanistan. Stattdessen müssen Iran und die arabischen Staaten akzeptieren, dass sie alle über Anhängerschaft im Nahen Osten und Südasien verfügen und sie durch die geographische Lage, Religion und Kultur gezwungen sind, miteinander zu interagieren. Es würde den Interessen beider Seiten dienen, wenn diese Interaktion anfangs von gegenseitigem Entgegenkommen und schließlich vielleicht von Kooperation gezeichnet wäre.

Die internationale Hauptakteure müssen für ihren Teil eine Versöhnung zwischen den arabischen Staaten und Iran fördern oder sollten zumindest davon absehen, deren Differenzen in der Hoffnung zu verstärken, dass vielleicht eine arabisch-iranische oder sunnitisch-schiitische Feindschaft der Israel-Palästina-Front Frieden bringen würde. Wenn das passieren würde, wäre es bereits in den letzten zehn Jahren geschehen. Dieser Konflikt besitzt seine eigenen Dynamiken und keine Veränderung in anderen Teilen des Nahen Ostens wird den arabisch-israelischen Konflikt lösen, ohne auf die Kernthemen der palästinensischen Beschwerden einzugehen.

Die internationalen Akteure, denen die Stabilität im Irak und generell in der Region am Herzen liegt, müssen letztlich Saudi-Arabien für seine multidimensionale Unterstützung salafistischer bzw. wahhabitischer Bewegungen zur Verantwortung ziehen. Die Aktivitäten dieser Gruppen - die mehr als alle anderen die Gehilfen des Terrors sind - haben internationalen Akteuren, insbesondere den USA, substantielle Kosten im Sinne von Menschenleben und Geld aufgezwungen. Es besteht kein Grund, warum Saudi-Arabien immun gegenüber Untersuchungen und dem Vorwurf über die Rolle, die entweder seine Regierung oder seine Staatsbürger bei der Unterstützung extremistischer Ideen und Gruppen spielen, sein sollte.

Um es zusammenzufassen: Iraks Probleme werden nicht allein durch Maliki verursacht, und sie werden sich daher nicht automatisch nach seinem Ausscheiden lösen, obwohl seine deutlich fehlende „soziale Kompetenz“ und andere administrative Schwächen seine Beziehungen zu inländischen, regionalen und internationalen Kräften behinderten. Die Krise im Irak wurzelt in innenpolitischen, regionalen und internationalen Gründen, darunter die Manipulation der irakischen Trennlinien durch Außenstehende. Falls es kein neues und realistisches regionales und internationales Verständnis bezüglich Iraks Zukunft geben sollte, wurde Maliki bloß als Sündenbock dargestellt und der Irak wird dann weiterhin von einer Krise in die nächste schlittern. Die Vorstellung, dass die Iraker ihre Probleme ausschließlich allein lösen sollten, während fast jeder sich in ihr Land einmischt, ist nur eine „faule Ausrede“ aller Beteiligten.


Erstmals veröffentlicht am 18. August 2014 bei LobeLog. Übersetzt von Lena Späth.


Markus25-09-14

"Erst einmal müssen offizielle Spekulationen über den Zerfall des Irak aufhören - zusammen mit Maßnahmen wie der Bewaffnung regionaler Truppen, wie z. B. der Kurden, die dazu neigen, zentrifugale Kräfte zu unterstützen."

Das ist aber leider nicht ganz abwegig, würde ich behaupten. Insbesondere für die Kurden dürfte die Verführung doch groß sein, ihren Traum eines eigenen Staates zu erfüllen. Ich frage mich, ob sie nicht entsprechend entschlossen sind? Hinzu kommt, dass die Kurden bei der Umsetzung sicherlich nicht auf sich alleine gestellt wären. Wenn ein solcher Staat unter gegebenen Bedingungen errichtet werden würde, dann könnte sich ein solcher Traum aber langfristig gedacht zum Albtraum entwickeln.

Ich meine, dass auch ein Peter Scholl-Latour kurz vor seinem Tod den Zerfall Iraks prognostiziert hatte. Und das kann dann doch Sorge bereiten, da Scholl-Latour bekannt war für seine treffsicheren Prognosen.

Observer25-09-14

Die Kurden sind derzeit auf Hilfe vom Ausland, darunter auch aus Iran, angewiesen, wegen der Bedrohung von IS. Von da wird es in absehbarer Zeit keine Unabhängigkeitsbestrebungen geben.

Orientalist26-09-14

Irak braucht auf jeden Fall die Einsicht der sunnitischen Parteien, dass die proportionale Teilung der Macht für sie besser ist als einfach in der Fundamentalopposition zu verharren.

Josef27-09-14

Im Artikel heißt es, dass die Schiiten nicht den ganzen Irak repräsentieren und das stimmt auch. Aber ich glaube, dass von anderen viel mehr begriffen werden muss, dass niemand im Irak repräsentativer ist als die Schiiten, da sie ja die Mehrheit ausmachen. Ich persönlich denke, dass dies stark vernachlässigt wird. In der westlichen Welt wird doch sonst immer der demokratische Aspekt als Priorität betont. Wieso nicht hier?

Demokrat27-09-14

@Josef

Zu den demokratischen Werten gehören auch Rechte für Minderheiten. Das heißt natürlich nicht, dass die Mehrheit in einem Land mehr Bestimmungsrecht hat, aber das heißt auch nicht, dass Minderheiten ungeschützt bleiben, und gerade im Irak ist es wichtig, die Fehler aller Parteien zu analysieren und auf einen Nenner zu kommen.

siglinde27-09-14

Die islamische Welt soll balkanisiert werden, dass nützt Israel und schließlich auch den USA.
Das Ganze nennt sich Yinon Plan.

Engelhardt30-09-14

Der ehemalige amerikanische Botschafter räumt ein, dass ein wichtiges Problem, das Irak seit Jahren hat, ist, dass die Sunniten bisher nicht akzeptiert haben, dass Irak von einer Mehrheit - nämlich Schiiten - regiert wird.

http://lenziran.com/2014/08/03/united-states-ambassador-in-iraq-iraq-must-be-ruled-by-shia/

Marie-Luise01-10-14

Vernünftige Gedanken von Mrs. Hunter!
Aber wer wäre ein ehrlicher Vermittler, der hier interagieren könnte? Es könnte der Iran sein, der schon seine Gedanken an Saudi-Arabien gerichtet hat für einen Zusammenschluss der arabischen Staaten in Kultur, Wirtschaft. Aber die Arroganz dieser autoritären Länder, vom Westen toleriert, werden sich nicht bewegen. Zumal man auch nicht versteht, was die USA und Israel wirklich dort vorhaben. Iran wird doch immer noch nicht vom Westen respektiert, wie sehr es sich auch bemüht. Man denke nur an Kuba, über 60 Jahre immer noch Embargo!- Ich sehe eher eine Erstarkung Chinas, das seine Präsenz,Stärke zeigt militärisch, wirtschaftlich mit Russland und den BRICS-Staaten im Verbund. Das gefällt dem Westen natürlich nicht, der ja eine Doppelmoral fährt. Russland soll jetzt ja auch mit Sanktionen geschwächt werden, dazu dient diese verlogene Ukraine-Politik. Mein Vertrauen in die Westlichen Demokratien ist, wenn ich mir die Welt heute anschaue, erschüttert !





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