20.06.2014 Shireen T. Hunter

Irak-Krise: Maliki ist nicht das entscheidende Problem


Irak Ministerpräsident Premierminister Nuri Nouri al-Maliki

Der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki.

Der in Bedrängnis geratene irakische Premierminister Nouri al-Maliki ist der letzte in der langen Liste der Staatsführer, die vom Liebling des Westens zum Paria wurden. Der gängige Konsens ist nun, dass Malikis Schwächen und seine falsche Politik, insbesondere seine Entfremdung von den Sunniten und sein diktatorischer Regierungsstil, die Ursachen der irakischen Schwierigkeiten sind, einschließlich der aktuellen Auseinandersetzungen mit militanten Islamisten. 

Ganz offensichtlich ist Maliki kein erfolgreicher Ministerpräsident. Aber sind seine Schwächen, die tatsächlichen sowie die unterstellten, wirklich die einzige oder zumindest die Hauptursache der Probleme, denen der Irak heute gegenüber steht? Hätte jemand anderes es besser gemacht? Oder sind vielmehr strukturelle Probleme, Iraks lange und besonders jüngere Geschichte und die Politik regionaler und internationaler Akteure die Schuldigen? Und außerdem stellt sich noch die Frage: Lassen sich die Klagen der irakischen Sunniten allein auf das Bestreben der Schiiten, die Macht zu monopolisieren, zurückführen? Wie steht es mit dem Unvermögen der Sunniten, mit irgendeiner Regierung zusammenzuarbeiten, in der die Schiiten über mehr als eine rein zeremonielle Funktion verfügen?

Die angeführten Fragen sollen dabei weder die Auswirkungen des bisherigen Missmanagements und die Fehler der aktuellen Führung bagatellisieren noch sollen sie den zerstörerischen Einfluss der Uneinigkeit innerhalb der hochrangigen schiitischen Unterstützer Malikis, dem schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr und dem Vorsitzenden des „Obersten Islamischen Rates im Irak“, Ammar al-Hakim, unterbewerten. Aber wenn man die Fakten neutral betrachtet, zeigt sich, dass andere Faktoren eine erheblich größere Rolle bei der Verursachung der vorausgehenden Probleme und der aktuellen Krise im Irak gespielt haben als Malikis Inkompetenz und seine diktatorischen Neigungen.

Der wichtigste Faktor in Bezug auf die irakischen Probleme war das Unvermögen der sunnitischen Araber im Irak sowie ihrer sunnitischen Nachbarn, sich mit einer Regierung abzufinden, in der die Schiiten gemäß ihrer erheblichen Mehrheit in der Bevölkerung die Führungsrolle einnehmen. Dieses Unvermögen zeigte sich bereits früh, als die irakischen Sunniten die Teilnahme an den ersten Parlamentswahlen ablehnten und sofort nach der US-Invasion und dem Sturz Saddam Husseins den Ausweg im Aufstand suchten. Fortwährend lag das Ziel der irakischen Sunniten darin, zu beweisen, dass die Schiiten nicht in der Lage sind, den Irak zu regieren. Und tatsächlich hat der sunnitische stellvertretende Ministerpräsident des Irak, Osama al Najafi, kürzlich diese Ansicht in Worte gefasst. Die Sunniten sehen die politische Führungs- und Verwaltungsrolle als ihr Geburtsrecht an und ärgern sich über die schiitischen Eindringlinge.

Die psychologisch bedingten Vorbehalte der Sunniten, eine mehrheitlich schiitische Regierung zu akzeptieren, sind nachvollziehbar. Nachdem sie das Land jahrhundertelang, sowohl unter den Osmanen als auch nach der Unabhängigkeit, beherrscht hatten und dabei die Schiiten unterdrückt und als Häretiker und als Abschaum der Gesellschaft betrachtet hatten, ist für die Sunniten eine schiitische Herrschaft schwer zu ertragen. Es ist schwer vorstellbar, was irgendein schiitischer Premierminister hätte tun können - oder jetzt tun könnte - um die Sunniten zufriedenzustellen. Nachdem sie beispielsweise ihren Fehler, sich aus der Politik zurückzuziehen, bemerkt hatten, haben die Sunniten in den ersten Jahren nach dem Sturz Saddam Husseins unverhältnismäßige Forderungen als Bedingung für ihre Kooperation gestellt, darunter die Übernahme des Verteidigungsressorts. Wenn man bedenkt, was die Schiiten unter Saddam Hussein erlitten haben, bestand keinerlei Möglichkeit, dass sie diesem zustimmen konnten.

Die sunnitischen Araber im Irak waren nicht die Einzigen, die die Autorität der schiitischen Staatsregierung untergruben. Auch Masood Barzani, der die Vision eines unabhängigen Kurdistans verfolgt, hat getan, was er konnte, um die Macht der Regierung in Bagdad zu unterminieren, indem er im Wesentlichen seine eigene Wirtschafts-, Öl- und Außenpolitik verfolgte. Ein Faktor in Barzanis Auftreten waren seine Ressentiments gegenüber Iran, die sich auf die Konflikte seines Vaters, Mulla Mustafa Barzani, mit dem Schah zurückführen lassen.

Auch die sunnitischen Nachbarn des Irak, insbesondere Saudi-Arabien und die Türkei, aber auch Katar, können keine schiitische Regierung in Bagdad dulden. Zusätzlich zu dem anti-schiitischen Bekenntnis im wahabitischen Glauben, der die dominierende Glaubensrichtung in Saudi-Arabien und der Führung Katars ist, leiten sich diese sunnitische Ressentiments gegen Schiiten auch von der Vorstellung ab, eine schiitische Regierung im Irak würde das regionale Mächtegleichgewicht zugunsten Irans verschieben. Doch Maliki ist der am wenigsten pro-iranische schiitische Führer, mit der möglichen Ausnahme des inzwischen berüchtigten Ahmad Chalabi. Unter Saddam Hussein gehörte Maliki der Dawa Partei an, die dem von Iran unterstützten „Obersten Islamischen Rat im Irak“ als Rivale gegenüberstand, und er verbrachte mehr Zeit in Syrien als in Iran. Dies ist einer der Gründe, warum die USA Maliki gegenüber anderen politischen Persönlichkeiten wie Ibrahim Jafari bevorzugt haben.

Darüber hinaus hatte Maliki die Hände in Richtung der Türkei und anderer arabischer Staaten, einschließlich Saudi-Arabiens, ausgestreckt. Aber die Türkei stieß ihn vor den Kopf und unterstützte stattdessen seinen Rivalen Tariq al-Hashimi. Auch die arabischen Staaten mieden ihn. Unter diesen Umständen blieb Maliki keine andere Wahl, als sich Iran anzunähern. Trotzdem entbehrt die Vorstellung, er wäre deshalb eine Schachfigur Irans, jeglicher Realität. Selbst jetzt hat der Irak das Abkommen von Algier von 1975, mit dem die irakisch-iranischen Grenzstreitigkeiten beigelegt wurden, nicht wieder in Kraft gesetzt - ein Abkommen, das Saddam vor dem Angriff auf Kuwait im Jahr 1990 angenommen hatte. Der Irak hat keinen Friedensvertrag mit Iran unterzeichnet und konkurriert stattdessen mit Teheran um Kunden für Ölexporte. Außerdem hat der Irak intensivere Handelsbeziehungen mit der Türkei als mit Iran.

Um es kurz zu machen: Durch das Hochspielen der Konfessionsfrage haben die sunnitischen Nachbarn die Ängste der Schiiten verschärft und es ihnen schwerer gemacht, eine die Sunniten stärker einbeziehende Politik zu verfolgen. Ferner haben sich die meisten Tötungen in schiitischen Gebieten zugetragen und wurden von unterschiedlichen sunnitischen Extremistengruppen durchgeführt, die von sunnitischen Regierungen der Region finanziert werden. Die Misere der Schiiten ist dabei nicht auf den Irak beschränkt. Ähnliche Misshandlungen, die in Bahrain, Saudi-Arabien und Pakistan erfolgen, werden im Westen nicht wahrgenommen, wohingegen der Ausschluss der Sunniten von Führungspositionen in Bagdad überproportional herausgestellt wird. Die Antipathie des Westens und insbesondere der Vereinigten Staaten gegenüber Iran waren eine Hauptursache für die fehlende Anteilnahme bei Massentötungen und Anschlägen, die sich gegen Schiiten richten.

Die sich widersprechenden Zielstellungen der Politik der Vereinigten Staaten in der Region haben dazu geführt, dass man im Irak Strategien verfolgt, die zu der Zwangslage beigetragen haben, in der sich die USA nun befinden. Das eklatanteste Beispiel dafür war das Buhlen um die sunnitischen Aufständischen und Stammesführer, die damit ermutigt wurden, Angriffe, wie auf die schiitischen Schreine 2006 in Samara, durchzuführen und den Schiiten Angst zu machen, dass die Amerikaner sie erneut verraten würden, so wie sie es nach dem Ende des Golfkrieges 1991 getan hatten. Um Iran zu isolieren und dort möglicherweise einen Regimewechsel herbeizuführen, haben die USA rein gar nichts unternommen, um die Saudis und andere, inklusive der Türkei und Katar, in ihre Schranken zu weisen und davon abzubringen, sunnitische Aufständische zu finanzieren. Stattdessen hat Washington ausschließlich die iranische Einmischung für die Unruhen im Irak verantwortlich gemacht. Bis jetzt haben die Vereinigten Staaten nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass der „Islamische Staat im Irak und der Levante“ (ISIL oder ISIS) ohne äußere Unterstützung nicht soweit hätte kommen können.

Auf eine noch fundamentalere Ebene sind Amerikas Versuche, zu viele, sich widersprechende, unvereinbare Ziele zu verfolgen die Ursache der Irak-Krise gewesen. Bis jetzt hat es sich als schwierig - tatsächlich als unmöglich - erwiesen, Saddam Hussein zu stürzen und den Irak trotzdem zu stabilisieren; Iran zu isolieren und möglicherweise einen Regimewechsel herbeizuführen; Assad in Syrien zu stürzen, ohne den Bürgerkrieg dort zu verschärfen; eine sunnitisch-israelische Allianz gegen den schiitischen Iran zu schmieden und andere Schiiten der Region dazu zu bringen, die zweite Geige hinter den Sunniten zu spielen.
 
Zusammenfassend kann man sagen, dass Nuri al-Maliki sicherlich schwach ist und viele Fehler gemacht hat. Die tatsächlichen Ursachen liegen aber in den beachtlichen Trennlinien im Irak, der widersprüchlichen westlichen Politik und in der rücksichtslosen Politik der Nachbarstaaten. Selbst wenn Maliki aus seinem Amt ausschiede, würde sich die Situation im Irak solange nicht verbessern, wie diesen Trennlinien nicht Rechnung getragen wird und die Einmischung von außen nicht eingestellt wird. Stattdessen würde sich die Situation eher verschlechtern, weil die Schiiten nicht noch einmal bereit sind, unter einem Regime zu leben, das man als „Saddamismus ohne Saddam“ beschreiben kann - oder noch schlimmer, unter einer extremistisch-salafistischen Regierung, wie sie sie bezeichnen, die sie als todeswürdige Heiden betrachtet.


Shireen T. Hunter ist eine in USA lebende Iran-Expertin, die vor der Islamischen Revolution für das iranische Außenministerium tätig war. Sie ist Autorin von zahlreichen Bücher über den Nahen Osten, Islam und Iran.

Erstmals veröffentlicht am 14. Juni 2014 bei LobeLog. Übersetzt von Ulrike Hintze.


SA20-06-14

Es ist bezeichnend, dass in sämtlichen Medienberichterstattungen zu den Vorfällen im Irak mit keiner Silbe erwähnt wird, dass Nouri al-Maliki erst kürzlich im April die freien und fairen Wahlen unter internationaler Aufsicht im Irak gewonnen hat. Im Gegenteil wird er in den medialen Darstellungen als autoritärer Despot skizziert. Ziel solch einer Informationspolitik ist vermutlich einfach davon abzulenken, dass unkontrollierbare Terroristen durch die unverantwortliche Syrien-Politik des Westen und ihrer regionalen Verbündeten gezüchtet wurden - und die Schreiblinge, die heute über Irak verzerrt schreiben, genau diese Politik damals unterstützt haben. Die Verantwortung für die jüngste Krise im Irak wird nun einfach halber dem demokratischen Ministerpräsident Iraks zugeschoben.

Unbekannt20-06-14

Endlich ein Artikel, der klar benennt, dass Saudi-Arabien schon während der Stationierung der US-Truppen im Irak die Al-Kaida finanzierte und die USA aber merkwürdigerweise Iran für solche Anschläge verantwortlich machte. Diese abstruse Situation haben wir auch in Afghanistan gesehen, wo Pakistan die Taliban unterstützte und offensichtlich Bin Laden Zuflucht gewährte, aber die USA immer wieder Iran beschuldigte. Allerdings ist der grausamste und perverseste Punkt der gewesen, dass die westlichen Schreiblinge alle diese US-Anschuldigungen 1:1 übernommen haben und nie kritisch hinterfragten!

Helmut21-06-14

Konflikt Nahost Iran Irak Türkei Saudi
Samstag 21 Juni 2014 aus Spiegel

Klaus27-06-14

Nun, solange al-Maliki Panzer und Kampfhubschrauber schickt, wenn Sunniten in Mengen demonstrieren, wird sich bei den Sunniten nicht das Gefühl einstellen können, er widme seiner Politik allen Irakern. Daß es sich nicht um einen religiösen Zwist handelt, ist schon klar, nur hat er sich alle Mühe gegeben, ihn wie einen aussehen zu lassen.

Engelhardt30-09-14

Der ehemalige amerikanische Botschafter räumt ein, dass ein wichtiges Problem, das Irak seit Jahren hat, ist, dass die Sunniten bisher nicht akzeptiert haben, dass Irak von einer Mehrheit - nämlich Schiiten - regiert wird.

http://lenziran.com/2014/08/03/united-states-ambassador-in-iraq-iraq-must-be-ruled-by-shia/





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