15.01.2014 Thomas L. Friedman

Konflikte in der arabischen Welt - nicht nur wegen des Machtvakuums


Mit jedem Tag werden die Schlagzeilen über die arabische Welt schlechter: Eine Al-Qaida nahe Gruppe, unterstützt von ausländischen Kämpfern, ringt mit sieben verschiedenen inländischen Oppositionsgruppen um die Kontrolle der Region rund um Aleppo in Syrien. Die iranische Botschaft in Beirut wurde das Ziel eines Bombenanschlags. Mohammed Schattah, ein hoch angesehener ehemaliger Finanzminister Libanons, wurde getötet, nachdem er die brutale Taktik der Hisbollah kritisiert hatte. Eine weitere Al-Qaida-nahe Gruppe nahm die Stadt Falludschah im Irak ein. Explosionen erschüttern Ägypten, wo die Armee jetzt Islamisten und säkulare Aktivisten einsperrt. Libyen ist eine Zusammenballung von sich konkurrierenden Milizen.

Was geht da vor? Einige sagen, es sei alles dem "Machtvakuum" geschuldet - Amerika habe sich aus der Region zurückgezogen. Aber es liegt nicht nur an uns. Es gibt ebenfalls ein großes "Wertevakuum". Der Nahe Osten ist eine höchst pluralistische Region - Schiiten, Sunniten, Kurden, Christen, Drusen und zahlreiche Stämme - die über Jahrhunderte hinweg von oben herab mit eiserner Faust von Kolonialmächten, Königen und Diktatoren zusammengehalten wurden. Doch jetzt ist die vertikale Kontrolle zusammengebrochen, bevor diese zutiefst pluralistische Region einen authentischen Pluralismus von unten nach oben entwickelt hat - eine breite ethische Toleranz - die es den Menschen ermöglichen könnte,  als gleichberechtigte Bürger zusammenzuleben, ohne eine eiserne Faust, die sie von oben regiert. 

Damit das arabische Erwachen eine Zukunft hat, ist diejenige Anschauung unentbehrlich, die am wenigsten propagiert wird: Der Pluralismus. Solange sich dies nicht verändert, so sagt Marwan Muasher in seinem neuen treffendem Buch "The Second Arab Awakening and the Battle for Pluralism", wird keine der arabischen Revolutionen erfolgreich sein.

Abermals, Präsident Obama hätte mehr tun können, um die Machthaber im Irak, in Ägypten, Saudi-Arabien, Iran oder Syrien daran zu hindern, in Extreme zu verfallen. Aber schlussendlich, so Muasher, sei dies der arabische Kampf um die eigene politische Zukunft. Wenn 500.000 Truppen im Irak und eine Trillion Dollar keinen nachhaltigen Pluralismus im kulturellen Nährboden einpflanzen konnten, so wird es kein Außenstehender können. Denn es müsse ebenso ein Wille von Innen her bestehen. Wie kann es sein, dass einige 15.000 Araber nach Syrien strömten, um zu kämpfen und für den Jihad zu sterben, und hingegen niemand nach Syrien aufbrach, um für Pluralismus zu kämpfen und zu sterben? Ist es, weil wir den "guten Burschen" keine genügend große Waffen bereitstellten?

Wie es Muashar, ehemaliger jordanischer Außenminister und gegenwärtig Vizepräsident des Think Tanks "Carnegie Endowment" mit Sitz in Washington D.C., in einem Interview sagte: "Die drei Jahre der arabischen Revolutionen haben die Korruption aller alten politischen Mächte der arabischen Welt offengelegt." Die korrupten säkularen Autokraten, die es versäumt haben, ihrer Jugend die nötigen Werkzeuge zur Prosperität zu geben - und infolge dessen diese Aufstände auslösten - befinden sich immer noch in einem Kampf mit den Islamisten, die nicht wissen, wie Arbeitsplätze, Dienstleistungen, Sicherheit und wirtschaftliches Wachstum zu etablieren sind. (Tunesien mag da eine Ausnahme sein.) "Solange wir in diesem Nullsummenspiel verbleiben, wird die Summe null sein", so Muasher.

Ein dauerhafter Fortschritt wird nicht möglich sein, so erklärt Muasher, ohne einen Ethos des Pluralismus, der alle Seiten der arabischen Gesellschaft durchdringt - Pluralismus in der Meinung, Pluralismus in der Geschlechtergleichstellung, Pluralismus im Hinblick auf andere religiöse Gruppen, Pluralismus in der Erziehung, Pluralismus gegenüber Minderheiten, Pluralismus politischer Parteien mit rotierendem Machtwechsel und Pluralismus in dem Sinne, dass jeder das Recht hat, anders als das Kollektiv zu denken.

Im 20. Jahrhundert war das erste arabische Erwachen der Kampf um die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten, sagt Muasher. Es entwickelte sich aber nicht zu einem Kampf um Demokratie und Pluralismus. Dieser Kampf um Anschauungen, fügt er hinzu, muss der Inhalt des zweiten arabischen Erwachens sein. Weder die Autokraten noch die Islamisten können für einen Aufschwung sorgen. "Der Pluralismus ist das zu bedienende System, mit dem wir unsere gesamten Probleme lösen müssen. Und so lange dieses Betriebssystem nicht besteht, werden wir nicht da hin gelangen. Dies ist ein interner Kampf. Lasst uns aufhören, auf Hilfe von außen zu hoffen." Dies wird Zeit in Anspruch nehmen.

Ist das naiv? Nein. Naiv ist vielmehr zu denken, dass es lediglich um die Abwesenheit oder Anwesenheit der amerikanischen Macht geht und die Menschen der Region keinen Einfluss hätten. Das ist schlichtweg falsch. Der Irak ist zersplittert, weil sich Ministerpräsident Maliki wie ein schiitischer Milizionär verhielt, nicht wie ein irakischer Mandela. Die arabische Jugend hat ihre Zukunft in die eigene Hand genommen und wurde dabei vornehmlich von pluralistischen Gedanken angetrieben. Aber die alte Macht hat sich als zu hartnäckig erwiesen. Dennoch haben sich diese jungen Bestrebungen nicht aufgelöst, und sie werden es auch nicht.

"Die arabische Welt wird eine Zeit der Wirren durchleben, in der ausgrenzende Kräfte versuchen werden, die Landschaft mit absoluter Wahrheit und einer neuen Diktatur zu beherrschen", schreibt Muasher. Aber "diese Kräfte werden sich auflösen, weil letztendlich ausgrenzende, autoritäre Diskurse das Bedürfnis der Menschen nach einem besseren Leben nicht beantworten können… Die Geschichte hat deutlich gezeigt, dass dort auch Wohlstand gab, wo die Vielfalt geachtet wurde. Das Gegenteil, was die arabischen Gesellschaften über Jahrzehnte von ihren Regierungen erzählt bekamen - nämlich, dass Toleranz, Meinungsfreiheit und kritisches Denken der nationalen Einheit und dem wirtschaftlichen Wachstum schaden - die Erfahrung hat gezeigt, dass Gesellschaften sich nicht ständig erneuern können und somit nur durch Vielfalt gedeihen."

Muasher, der nach Jordanien zurückkehrte, um für diese Vielfalt zu kämpfen, widmete sein Buch: "Der Jugend der arabischen Welt - die sich auflehnten, nicht gegen ihren Eltern, aber in ihrem Namen."


Erstmals veröffentlicht am 7. Januar 2014 bei The New York Times. Übersetzt von Muhsina Kurratulain.


Denkeinsatz15-01-14

Alles wohl wahr. Doch: wenn 10 Blinde an verschiedenen Stellen einen Elefanten betasten, berichten sie jeweils völlig unterschiedliche Wahrnehmungen. Schlimm wird es, wenn sie ihre je eigene haptische Erfahrung als die allein Wahre darstellen.

Der Autor sagt nichts dazu, ob die arabische Welt (auch) einen Prozess der Säkularisation und Aufklärung benötige.

Der Autor schweigt zum globalen Kampf um Öl, Gas, Energie, dessen Opfer noch immer die arabische Bevölkerung ist.

Er sagt nichts zur Rolle Saudi-Arabiens und Quatars, der dortigen klammheimlichen Finanzierung des Terrorismus; er schweigt zur Rolle der diesen gleichen Terrorismus ebenfalls fördernden US-Geheimdienste.

Solange solche Kräfte am Werk sind, ist jede Rede von Pluralismus wohlfeil und naiv, ob im Westen, in Russland oder in der arabischen Welt.

Damit der "Orientalist" nicht meckert, vermeiden wir hier den Begriff "islamische Welt".

(von Moderation chiffriert)16-01-14

Hey ich habe mich sehr für das thema interrissiert. [...]*

*MODERATION: Bitte bleiben Sie beim Thema des Artikels. Vielen Dank.

Ulrik18-01-14

Wir möchten im Soomer lat wieder Urlaub in Tunesien wagen. Wäre schön wenn Sie weiter schnörkellos berichten. Danke





* Bitte haben Sie Verständnis, dass die Redaktion Beiträge editiert oder nicht freigibt mit dem Ziel einen moralischen Austausch zu gewährleisten.